Nervennahrung

SWEA - how Not to Do it!

14.09.2015

In diesem Wintersemester werde ich mal wieder Software Engineering (Analysis) lesen, worauf ich mich freue, denn in dieses Modul kann ich ganz viele Beispiele und Erfahrungen aus der Praxis einfließen lassen - wahrscheinlich mehr als bei jedem anderen Modul. Zusammen mit dem Kollegen Eicke Godehardt werde ich dieses Mal auch alternative Ideen für die Vorleistungen (vulgo Testate) ausprobieren, mal sehen , wie das klappt.

Ein Beispiel, wie man Software auf keinen Fall entwerfen sollte, ist das elektronische “ELStAM” (Elektronische Lohn Steuer Abzugs Merkmale Verfahren und alles was damit zusammenhängt. Im Frühjahr dieses Jahres hat die Lohnbuchhaltung eines ehemaligen! Arbeitgebers von mir mich versehentlich wieder als Mitarbeiter ihres Unternehmens verbucht und mir die damalige Steuerklasse zugeordnet. Man denkt, das kann ohne Einwilligung des Betroffenen gar nicht geschehen, so heißt es z.B. unter Datenschutz “Nur Ihre aktuellen Arbeitgeber sind zur Anfrage und zum Abruf der ELStAM berechtigt. Mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses entfällt diese Berechtigung” (s. z.B hier). Doch das ist wohl noch nicht implementiert. Die Abfrage kann sogar ohne Information des Betroffenen erfolgen, denn in Deutschland ist man in erster Linie Untertan, insbesondere als Arbeitnehmer. Erfahren habe ich davon dadurch, dass mein wahrer Arbeitgeber, das Land Hessen (ich bin ja Beamter), nun auf einmal meinen Beamtensold nicht mehr korrekt auszahlen konnte, da das Land nicht mehr als Arbeitgeber beim Finanzamt eingetragen war und damit nicht mehr auf die Stammdaten zugreifen konnte. In der Tat ist es so, daß jeder Arbeitgeber, der sich am elektronischen Lohnsteuerverfahren beteiligt, also wirklich jeder Arbeitgeber und der die korrekte Steueridentifikationsnummer kennt, ohne jedwede Sicherheitsabfrage sich als Arbeitgeber des Steuerpflichtigen mit der Steueridentifikationsnummer eintragen kann und danach Stammdaten verändern darf (der Steuerpflichtige darf das selbstverständlich nicht - sind ja auch nur seine Daten…). Dabei gilt das Prinzip “Wer zuerst kommt, mahlt zuerst”, m.a.W. wenn ein inkorrekter Eintrag erfolgte, hat der richtige Arbeitgeber das Nachsehen - mit allen unangenehmen Folgen. Dieses Fenster der Verwundbarkeit existiert andauernd, d.h. jeden Monat ist es für den richtigen Arbeitgeber zwingend erforderlich, die Steuer- (Stamm-) daten vom Finanzamt abfragen zu können und falls ein anderer die Daten fälschlich in der Zwischenzeit geändert hat, ist das Chaos da. Ich erspare Ihnen die Details und die zahlreichen Telefonate und Emails, die notwendig waren, um die Dinge wieder ins Reine zu bringen (ob es gefruchtet hat, weiß ich sowieso erst am Ende des Jahres, wenn der Lohnsteuerjahresausgleich ansteht.)

In der Vergangenheit gab es eine Lohnsteuerkarte. Die war analog und der Lohnsteuerpflichtige konnte sie verwalten. Hatte man alles korrekt eingetragen, konnte nichts passieren. Was ist nun die Ursache der oben geschilderten Problematik, die - so habe ich es von Finanzbeamten und Mitarbeitern der Personalabteilungen erfahren - Monat für Monat in Deutschland viel Zehn- (Hundert?!) Tausende Menschen betrifft? Man denkt zuerst an einen Bug - aber nein “it works as designed”; es ist sogar alles so im zuständigen SAP Handbuch dokumentiert. Der fundamentale Grund für eine derartig skandalöse Implementierung liegt vielmehr im - aus meiner Sicht - falschen Modell des Bürgers als Untertanen und dummen Lohn- und Steuerpflichtigen: In der Schweiz wäre ein solches Verfahren undenkbar. Dort ist der Bürger (Einkommens-) steuerpflichtig und selbst dafür verantwortlich. Er bekommt den Lohn deshalb in voller Höhe ausgezahlt und ist dann selbst verantwortlich, die Steuern korrekt zu entrichten. In Deutschland wird dagegen alles vom Arbeitgeberabgeführt (sogar die Renten- und Krankenkassenpflichtbeiträge, aber das ist ein anderes Thema). Daher ist man als Steuerpflichtiger in Deutschland nicht Herr des Verfahrens, sondern sitzt zwischen allen Stühlen (den - in meinem Falle - zwei Arbeitgebern und dem Finanzamt). Während dem Bürger nicht getraut wird, bringt man Arbeitgebern offenbar uneingeschränktes Vertrauen entgegen, denn nur so ist es zu erklären, dass eine Überprüfung der Berechtigung gar nicht erfolgt.

Ein schönes Beispiel dafür, daß eine Domänenmodellierung fundamental wichtig ist und sogar ethische, philosophische und politische Dimensionen aufweisen kann! Ich werde diese “Case Study” jedenfalls in mein Standardcurriculum für SWEA und SWED aufnehmen! Danke, Finanzamt!