Nervennahrung

Fakten und Moral

10.12.2020

Moralisieren ist ja “in” zur Zeit. Wir erleben Politiker, die tränennah das Volk beschwören, Verantwortung zu zeigen und Weihnachten nicht die Großeltern umzubringen. Schauen wir einmal in den letzten RKI Bericht zur Lage. Auf Seite 6 finden Sie die Abbildung 4:

RKI-Grafik-Inzidenzen

Wo finden sich die höchsten Inzidenzen? Beim Partyvolk und den Jungen? Nein, in der Altersgruppe 90+ - mit Abstand (494!). Auf Seite 1 heißt es denn auch “die hohen bundesweiten Fallzahlen werden verursacht durch zumeist diffuse Geschehen, mit zahlreichen Häufungen insbesondere in Haushalten und Alten- und Pflegeheimen, aber auch in beruflichen Settings, in Gemeinschaftseinrichtungen und ausgehend von religiösen Veranstaltungen.” Wer nach 10 Monaten Pandemie es nicht schafft, vulnerable Gruppen in Alten- und Pflegeheimen zu schützen, sollte mit moralisierenden Reden zurückhaltend sein. Wie man es richtig machen kann, zeigt z. B. Boris Palmer in Tübingen. Und Herr Drosten (“es (kann) nicht gelingen, die Älteren komplett abzuschirmen,”) sollte m.E. über seinen Teil der Verantwortung nachdenken, dass wir nach 10 Monaten Pandemie immer noch keinerlei Schutz der gefährdeten Gruppen hinbekommen haben, anstatt eine “letzte Warnung der! Wissenschaft” an die Politik zu beschwören. (Über die Verwechselung von Kategorien, die dieses Zitat vermuten läßt, schreibe ich vielleicht ein ander Mal).

Merke: “Es gibt nichts Gutes, außer man tut es” (Erich Kästner). Davon will die Politik zur Zeit offenbar ablenken.

Update 1: Hier noch ein Kommentar von Gerd Glaeske, Professor für Gesundheitswesen an der Universität Bremen und langjähriges Mitglied des Sachverständigenrates Gesundheit der Bundesregierung: ‘“Wir sehen nun die Konsequenzen der bisherigen Entscheidungen. Die Prävention wurde in den vergangenen Monaten sträflich vernachlässigt, die ruhigen Monate im Sommer nicht genutzt.” Besonders in Alters- und Pflegeheimen liege die Situation im Argen. Die Vorsorge für die dort lebenden «vulnerablen Gruppen» sei unterblieben. Die Todesraten in solchen Einrichtungen fielen entsprechend hoch aus. Das bestätigte kürzlich auch das Robert-Koch-Institut in seinem Lagebericht. Das Argument, dass die Menschen selber schuld an den ansteigenden Zahlen seien, will Glaeske nicht gelten lassen: Aus der Risikokommunikation wisse man, dass man der Bevölkerung nicht nur Angst einjagen dürfe, sondern ihr auch Angebote machen müsse. “Einen solchen proaktiven Umgang mit der Krise habe ich vermisst.” Der Grund dafür sei, dass die Beratergremien der Regierung sehr stark von Medizinern und Virologen dominiert seien. Sozial- und Gesundheitswissenschafter seien dort kaum vertreten. Die Lageeinschätzung und deren Kommunikation falle sehr einseitig aus.’

(Solche kritischen Stimmen erfahren Sie leider meist nur, wenn Sie ausländische Presseerzeugnisse lesen. Aber das ist ja dank des Internets auch im Lock-down möglich.)

Update 2: Ich muß mich korrigieren - auch die FAZ berichtet inzwischen vermehrt über kritische Stimmen: “Wichtig ist vor allem, wir brauchen eine nachhaltige Strategie. Eine Abfolge von Lockdowns ist keine langfristige Strategie”, sagt z. B. der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit von der Universität Hamburg. Dem ist nichts hinzuzufügen. Alternativen existieren - s. Asien, s. Tübingen. Und wenn man einen echten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs pflegen würde, würden wir in einer gemeinsamen Kraftanstrengung bestimmt noch viel mehr Alternativen entdecken - so funktioniert eine offene Gesellschaft und nicht mit autoritären Ansagen im Kommandoton.

Update 3: Wie die Hessenschau schon Ende November berichtete, ist “Wohnen im Altenheim […] derzeit der größte Risikofaktor für einen Tod durch oder mit Covid-19. Das zeigen die November-Zahlen des Landes […] Das heißt: Zwei von drei Corona-Toten derzeit entfallen auf Altenheime. Das ist ein deutlich höherer Anteil als in der ersten Corona-Welle, als etwa 40 Prozent der Verstorbenen zuvor in einem Heim gelebt hatten.” Warum man jetzt erst Maßnahmen beschließt, um so etwas zu verhindern, fragen Sie am besten ihre(n) Abgeordneten.