Risikomanagement
30.12.2020Risikomanagement ist ein ganz wichtiger Bestandteil eines jedes Projektmanagements. Als solches lehre ich Risikomagement auch in jeder Vorlesung über Software-Engineering. Nehmen wir an, daß Sie z. B. ein Projekt mit einem Etat von 50 Millionen zu verantworten haben. Aufgrund einer unvorhergesehenen Katastrophe kommt es zu einem Projektstillstand, der Sie jeden Monat 1 Million kostet. In Ihrem Team gibt es clevere Software-Entwickler, die ihnen 10 verschiedene Ideen, wie mit der Krise umzugehen sei und wie der Stillstand aufgehoben werden könnte, vorschlagen. Sie wissen als erfahrener Projektmanager, daß in der Regel nur 10% der Ideen funktionieren. Die Verfolgung jeder Idee kostet 10.000 Euro. Was tun Sie?
Nun ist Software-Engineering nicht nur, aber oft lediglich angewandter “gesunder” Menschenverstand. Auch wenn Sie keine meiner Vorlesungen gehört haben, entscheiden sich natürlich ohne lange nachzudenken dafür, alle Ideen parallel anzugehen. Das kostet Sie 100.000 Euro. Bei 10% Erfolgswahrscheinlichkeit haben Sie dann im Mittel (wenigstens) eine Lösung und Sie können die monatlichen Kosten von einer Million Euro sparen, sobald wenigstens eine Idee funktioniert. Niemand - auch nicht der inkompetente Pointy-haired Boss -, wird ihnen vorwerfen, daß Sie 90.000 Euro verschwendet haben, weil diese Ideen gescheitert sind, sondern jeder wird Sie loben, daß Sie das Projekt gerettet haben.
In etwa dieser Situation befanden sich im Sommer Jens Spahn, unser Gesundheitsminister und die EU. Sie mussten Impfstoffe bestellen und dabei auf verschiedene Kandidaten setzen. Anstatt sich genügend Impfstoffe von allen vielversprechenden Kandidaten zu sichern, haben Sie lediglich so viele bestellt, daß sie ausreichen wenn viele oder sogar alle der Kandidaten durchkommen. Leider ist bei Impfstoffentwicklung 10% schon eine gute Erfolgsquote. Noch dazu hat man aus Kostengründen auf billige Hersteller wie Astra-Zenica gesetzt, sowie aufs Gründen des nationalen Prestiges auf französische Hersteller wie Sanofi, die bisher leider nicht liefern können. Dabei war im Sommer schon absehbar, daß die vielversprechenden mRNA Impfstoffe zuerst verfügbar sein würden. Aber selbst als klar war, daß BioNTech und Moderna liefern können und das mit einer hervorragenden und so nicht zu erwartenden Schutzwirkung, hat man, als BioNTech der EU weitere 150 Millionen Impfdosen angeboten hatten, dies abgelehnt. Resultat: Es gibt nicht genügend Impfstoffe und sie kommen zu spät. Israel hat z. B. genügend Impfstoffe, um alle Einwohner bis Ende Februar impfen zu können, während für die Mehrheit der Bundesbürger (Menschen unter 60 ohne schwere Vorerkrankungen) im Dezember 2021! mit der Impfung begonnen werden soll. Falls es weitere Zulassungen geben sollte, wäre mit einem “Impfangebot” im Sommer zu rechnen. Für solches Risikomanagement erhalten Sie in meinen Prüfungen eine 5 und im Job die Kündigung.
Es ist m.E. sehr befremdlich, daß dieses offensichtliche Versäumnis der Regierung so wenig in der Presse thematisiert wird. Allerdings berichtete der Spiegel am 20.12.: “Derweil geraten auch die Bundesregierung und die EU unter Druck, weil sie sich bislang offenbar zu wenig Impfstoff gesichert haben. Nach SPIEGEL-Informationen hatte sich die Bundesregierung etwa auf die Einkaufspolitik der EU verlassen. Diese wiederum hatte Hunderte Millionen Dosen Impfstoff ausgeschlagen – offenbar auch um Bestellungen bei Herstellern aus verschiedenen EU-Ländern im Gleichgewicht zu halten.” und 18.12.. Ich habe kurz überlegt, ob ich auch die folgende Quelle verlinken soll, da die Bildzeitung weder zu meiner täglichen Lektüre gehört noch im allgemeinen durch seriöse Berichterstattung auffällt. Aber entgegen dem Zeitgeist ist für mich wichtig, was jemand sagt und nicht wer etwas sagt. Und dieser Artikel der Bildzeitung ist, was den faktischen Gehalt angeht, zu 100% korrekt und die Meinungsaussagen kann man auch als Hochschullehrer unterschreiben.
Ein weiterer sehr irritierender Aspekt, der in jenem Artikel aufgegriffen wird, ist die völlig bizzarre Diskussion um “Privilegien”, die Geimpften eingeräumt werden sollen oder nicht. Grundrechte sind keine “Privilegien”, die gewährt werden! Wie der Spiegel heute berichtet, warnt denn auch der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, davor, die (Corona) Einschränkungen auch nach erhaltener Impfung aufrechtzuerhalten.
Update 1 (01.01.2021): Uğur Şahin im Interview mit der Welt vom 01.01.2021 zur Weigerung der EU, genügend Impfstoff bei BioNTech zu bestellen: “Es gab die Annahme, dass noch viele andere Firmen mit Impfstoffen kommen. Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug, es wird alles nicht so schlimm, und wir haben das unter Kontrolle. Mich hat das gewundert.”
Update 2 (01.01.2021): Langsam nimmt die Diskussion Fahrt auf. “Ich halte die derzeitige Situation für grobes Versagen der Verantwortlichen”, sagt z. B. Frauke Zipp, Ärztin, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Neurologie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz sowie Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. “Wenn man bei den damals schon Erfolg versprechenden Unternehmen wie Biontech, Curevac, Moderna, AstraZeneca und einem weiteren schon im Sommer für jeweils 60 Prozent der Bevölkerung – für Deutschland also etwa jeweils 100 Millionen Dosen zu je rund 20 Euro – bestellt hätte, dann wären das für Deutschland gerechnet Kosten von rund zehn Milliarden Euro gewesen.“ Viele der Impfstoffe seien sogar deutlich billiger: “Das ist nichts im Vergleich zu den Summen, die man gerade zur Stützung der Wirtschaft aufwenden muss. Ganz zu schweigen von den Menschenleben, die durch eine frühe und zügige Impfung zu retten wären.” In eben diesem Artikel heißt es weiter, “andere Länder wie die USA, Großbritannien, Israel und Kanada seien so verfahren, so die Professorin – und könnten nun wohl schon im Frühjahr einen großen Teil ihrer Bevölkerung geimpft haben.”
Und im Fokus spricht Jan Fleischhauer vom “Merkels Impfstoff-Versagen” als der “verheerendste Entscheidung der Kanzlerin in 15 Jahren Amtszeit”.